Erlebnisse eines Schwarzfahrers

Freitag, 9. Februar 2007

Die U-Bahn-Station Westpark, die von meiner Wohnung aus am schnellsten zu erreichen ist und die ich dementsprechend oft nutze, ist vermutlich die letzte Münchner U-Bahn-Station, an der weder ein Zeitkartenautomat noch ein Kiosk steht. Dementsprechend kommt es gelegentlich vor, daß ich am Monatsanfang noch eine U-Bahn-Fahrt ohne gültige Fahrkarte antrete – zum Beispiel am vergangenen Freitag. Um rechtzeitig vor der Wochenendschließung zu meiner derzeit bevorzugten Mensa zu kommen und dort zu Mittag zu essen, hatte ich mir eine Fahrt der Linie 6 herausgesucht: Abfahrt Westpark 13.19 Uhr, Ankunft Giselastraße 13.34 Uhr.

Der Zug war schon recht gut besetzt, als ich in den hintersten Wagen einstieg, aber das ist freitags nicht weiter beunruhigend. An der übernächsten Station (Harras) stieg unter anderem ein Mann ein, der ungefähr wie ein normaler Oberstudienrat aussah. Er stieg erst nach der Durchsage »Bitte zurückbleiben« und dennoch recht gemächlich ein, so daß seine ockergelbe Jacke teilweise zwischen den beiden sich schließenden Türhälften eingeklemmt wurde. Die Einklemmschutzsensoren, die mittlerweile in fast allen Münchner U-Bahn-Wagen eingebaut sind, sprachen darauf aber nicht an, so daß der Zug einfach weiterfahren konnte. An der folgenden Station (Implerstraße, siehe Archivbild rechts) konnte er sich durch Öffnen der Tür mühelos aus dieser Lage befreien.

Ganz so einfach war es dann aber doch nicht: Als nach recht langer Wartezeit (an der Implerstraße werden die Linien 3 und 6 stadteinwärts auf einem Gleis zusammengeführt, und der vorhergehende Zug der Linie 3 war gerade erst abgefahren) das Signal wieder auf Grün wechselte, fuhr der Zug nicht mehr los – der Einklemmschutz hatte sich nachträglich aktiviert. Der Fahrer probierte es noch zwei-, dreimal mit Öffnen und Schließen, unterhielt sich dann wohl über Funk mit der Zentrale und lief etwas später von seinem Führerstand an das hintere Ende des Zuges. Nach kurzer Prüfung der Lage betätigte an der betroffenen Tür die Notentriegelung, schob die beiden Türflügel von außen zu, kam herein, verriegelte alles und kehrte zurück zu seinem Führerstand; kurz darauf setzte sich die Fahrt fort.

Wer öfters mit der U-Bahn fährt, kann sich schon ungefähr ausmalen, wie es dann weiterging: Die hinteren Wagen auf der U 6 in Richtung Nord sind ohnehin schon ein Schwachpunkt, weil an den zwei wichtigsten Umsteigepunkten (Marienplatz und Odeonsplatz) der Umstieg zu den anderen Linien jeweils am südlichen Bahnsteigende stattfindet. Dementsprechend steigen viele, die dort umsteigen wollen, gleich hinten ein, und andererseits drängen sich diejenigen, die dort von den anderen Zügen umsteigen, ebenfalls hauptsächlich in diese Wagen hinein. Für die Fahrgäste im »abgeschnittenen« Drittel des Wagens war das Aussteigen also gleich doppelt erschwert. Der Herr mit der ockergelben Jacke brachte es dann auch zustande, sich beim Aussteigen am Goetheplatz gleich nochmal in Handgreiflichkeiten mit den sich schließenden Türen zu verwickeln – immerhin ohne diese dann auch noch zu beschädigen. Ich beschaffte mir inzwischen von zwei anderen Fahrgästen etwas zum Schreiben, um einen Hinweiszettel von innen an die blockierte Tür zu kleben, auf den ich die Leute, die an den diversen Haltestellen einsteigen wollten, fleißig aufmerksam machte.

Jedenfalls führte der Engpaß dazu, daß sich an jeder Station noch Fahrgäste durch die verbleibenden zwei Türen zwängten, als diese bereits am Schließen waren. An der Station Universität war das zufällig ein kleiner türkischer Schüler, der kurz nach einem großen jungen Türken einstieg (ich nenne den kleinen jetzt einfach Ahmed und den großen Bülent). Vielleicht stammten sie auch gar nicht aus der Türkei, sondern aus einem anderen Land dieser Gegend, aber das ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend. Einem Mann, der in diesem Moment in der Nähe stand – nennen wir ihn mal Christian –, fiel jedenfalls die Verzögerung beim Schließvorgang auf und die Tatsache, daß da ein Ausländer einsteigt, der obendrein gut gelaunt ist (den kleinen Ahmed sah er gar nicht, weil der eben zu klein war). Er fing also an, Bülent zu beschimpfen, was das denn solle und so und ob er das womöglich nicht lustig finde. Der wiederum empfand diese Ansprache als recht unangemessen, da er die Tür ja gar nicht blockiert hatte, und verwies auf Ahmed neben sich. Da der aber immer noch zu klein war, um für Christian sichtbar zu sein, pöbelte dieser stellvertretend weiter den Bülent an, der natürlich entsprechend zurückpöbelte.

Irgendwann wies ich ihn dann darauf hin, daß dieses Gepöbele reichlich albern sei und sie sich bei der Enge nicht auch noch in eine Prügelei hineinsteigern müßten (ich wollte ja schließlich auch gleich aussteigen, ohne dabei noch in Mitleidenschaft gezogen zu werden). Eine Hausfrau wiederum – ich nenne sie hier Dora –, die mit dem Rücken zum Einstieg saß und also nur die Pöbeleien und meinen Kommentar mitbekommen hatte, sah jetzt den Zeitpunkt gekommen, selbst etwas Zivilcourage zu beweisen, und begann zu argumentieren, wo man denn hinkäme, wenn da niemand etwas sagen würde, und daß die Jugend von heute es dann wohl irgendwann noch für normal halten würde, Einstiegstüren zu blockieren. Da ich, wie bereits erwähnt, gleich aussteigen und essen wollte, verzichtete ich auf lange Erklärungen und wies sie lediglich darauf hin, daß der Sachverhalt komplizierter sei als er ihr gerade erscheine.

Falls Sie zufällig diese Dora sind: Jetzt wissen Sie ja Bescheid.

Mich hätte jedenfalls sehr interessiert, was Christian gesagt hätte, wenn er den Herrn mit der ockergelben Jacke beim Einsteigen beobachtet hätte. Wahrscheinlich hätte er einfach geschwiegen.

Aber nachdem ich mich – zehn Minuten später als geplant – mit Fisch und Kaiserschmarrn gestärkt hatte, kaufte ich mir als erstes eine neue Monatskarte.